Königsklasse: Das Hobbit-Tagebuch

Im Frühjahr 2022 stand bei meiner 7. Klasse “Der Hobbit” als Lektüre an. Das sollte für meine Klasse etwas Besonderes werden. Immerhin hatten sie in Klasse 5 ihre dreijährige Heldenreise bei mir begonnen und sie näherte sich allmählich dem Ende. Nach dem 3. Jahr musste ich die Klasse abgeben. “Der Hobbit” sollte das vorläufige Highlight der Gamificationklasse sein. Nur das Nibelungenlied stand noch aus und würde das dramatische Finale der Heldenreise markieren.
In diesem Praxisbeispiel geht es zwar hauptsächlich um Gamification, aber ich dokumentiere ebenfalls, welche Wirkung die gamifizierte Unterrichtseinheit auf die Klasse und einzelne Schülerinnen und Schüler hatte. Am Rande gebe ich euch ein paar Ideen mit, bei denen es sich gelohnt hat, sie ebenfalls in die Einheit hineinzupacken. Ich ging auf Musik, Rollenspiele und andere Fantasyliteratur ein, um den Schülern aufzuzeigen, was Tolkien mit seinem “Hobbit” und “Herr der Ringe” alles ausgelöst hat. Überraschenderweise kam im Gegenzug auch viel Eigeninitiative von der Klasse. Beispielsweise ein Referat einer Schülerin über Aramäisch. Aber wie es dazu kam, erfahrt ihr weiter unten.

Vorwort

Bevor ich mit der Schilderung des Praxisbeispiels beginne, müsst ihr wissen, dass ich noch nie etwas Komplexeres gemacht habe als diese gamifizierte Unterrichtseinheit. Ich gehe davon aus, dass ihr euch in die anderen Guides eingelesen habt und auch wisst, wie ich meine Fantasy-Welt ausgestaltet habe, wer meine NPCs sind und gerade Mara sollte euch ein Begriff sein. Wenn dem so ist und ihr Bescheid wisst, dann brechen wir mit meinen Schülern auf ins Abenteuer.
Außerdem werde ich nicht ganz genau trennen, was einerseits im Unterricht geschah, was in der Story geschah und Lernziele werde ich auch nicht immer explizit nennen. Das würde den Rahmen völlig sprengen. Es geht ja eben genau darum, zu lesen, wie alles ineinander griff, und meine Klasse erlebte das genauso: Das Buch wurde lebendig, es war ein Abenteuer, an dem sie teilnahmen und viel lernten und mitnahmen.

Das Abenteuer beginnt…

Die Geschichte beginnt in Maras Haus. Die Helden kennen Mara jetzt schon recht lange, viele Jahre und haben von ihr und von den Abenteuern, auf die sie die Jünglinge geschickt hatte, viel gelernt. Für den Einstieg in die Unterrichtseinheit saßen die Helden mit Mara am Frühstückstisch und unterhielten sich. Nur eine Neugiernase wollte nicht am Tisch sitzen und spazierte durch Maras Haus. Hier habe ich einfach jemanden aus der Klasse ausgewürfelt und erzählt, was sie beim Streifzug durchs Haus sieht. Die Türe zu Maras Schreibstube stand offen und da entdeckte die Heldin jede Menge Schriftstücke, die sie brennend interessierten. Von Abenteuerlust angesteckt, nahm sie die Schriftstücke mit zurück an den Frühstückstisch und breitete da alles aus. Sie wollte Mara dazu befragen und gleichzeitig so den anderen zeigen, was sie gefunden hatte:

Die “Schriftstücke”, die die Schülerin in Maras Schreibstube gefunden hat. (Foto:Jurgeleit)

Mara erzählte der Klasse von fernen Welten, fremden Ländern und unbekannten Völkern. Die Klasse bekam viel Zeit, sich die Bücher anzusehen und sich etwas auszusuchen, was ihnen besonders gut gefiel oder was sie interessant fanden. Großen Zuspruch fanden die Illustrationen aus dem Silmarillion und das Buch mit den Zeichnungen von Tolkien selbst. So kam die Klasse ins Gespräch, was das für eine Welt sei. Mara selbst war noch nie dort, aber sie wollte die Jünglinge auf ihr erstes großes Abenteuer ohne Begleitung schicken. Sie sollten das alles ohne Mentorin erleben, da sie jetzt genug von ihr gelernt hatten und das Gelernte anwenden sollten. Soll im Klartext heißen, dass es durch die Unterrichtseinheit hinweg bewusst weniger Hilfestellung von mir gab, da die Schüler alles, was sie vorher im Unterricht bei mir gelernt hatten, nun möglichst selbstständig anwenden sollten. Außerdem war es bei manchen Aufgaben von Vorteil, dass Mara nicht dabei war: Die Schüler sollten z.B. Handlungsschritte herausarbeiten und Inhaltsangaben schreiben, und zwar in Form eines Briefes an ihre Mentorin. Die mussten dann ja so geschrieben sein, dass Mara verstand, was in Mittelerde geschah. Darum blieb Mara daheim. Für die Schüler war es so viel einfacher, wenn sie eine konkrete Adressatin anstatt eines abstrakten Adressaten hatten (“Herr Lehrer, für wen schreiben wir diesen Aufsatz eigentlich?”). Ich konnte hier ganz klar sagen: Für Mara!
Bereits hier kamen die ersten tollen Momente für mich, da manche der Schüler schon ganz aufgeregt waren, alleine auf ein Abenteuer zu gehen! Sie sogen die Luft überrascht ein und sagten Dinge wie: “Ohaaaaa! Wir sind ganz alleine unterwegs! Wooohaaa!” Sie freuten sich total darauf, ohne Mentorenfigur loszuziehen, denn bisher stand ihnen in den letzten zweieinhalb Jahren fast immer einer meiner NPCs zur Seite.
Deswegen sollten die Abenteurer alles ganz genau beobachten und für Mara aufzeichnen. Außerdem könnten sie vielleicht in den Besitz von magischen Artefakten kommen, die sie mit nach Hause bringen sollten. Für den Fall hatte ich vorsorglich ein paar Replika eingekauft: den einen Ring und Stich.
Und Tee. Jede Menge Tee. Aber zum Tee gleich mehr.
Zudem hat Mara den Abenteurern ein nicht näher definiertes “Abenteuerpaket” geschnürt und mitgegeben. Darin sollten die Schüler immer passende Dinge finden, wie Schreibwerkzeug, ein Lexikon, Landkarten von Mittelerde, ein paar Tränke und Schriftrollen.
So ging es dann auf ins Abenteuer.
Oh Mann, ich konnte da noch nicht ahnen, was das alles lostreten würde!
Natürlich durfte auch digitale Unterstützung nicht fehlen. Ich hatte zwei recht praktische Seiten im Netz gefunden. Auf der einen konnte man den Weg der Gefährten chronologisch nachverfolgen, auf der anderen hatten wir einen Zeitstrahl, um zu sehen, wann genau welches Kapitel spielte und wie lange wir in Mittelerde unterwegs waren.

Aufbruch in eine andere Welt

Durch Maras magische Standuhr wurden die Jünglinge nach Mittelerde teleportiert und landeten vor Bilbos Haus. In ihren Rucksäcken fanden sie Maras erste Anweisung: Sie sollten alles über Hobbits in Erfahrung bringen, Bilbo beobachten und alles über seine Abstammung herausfinden. Dann wurden wir, gerade als wir unsere Beobachtungen beendet hatten, von einem bunt zusammengewürfelten Haufen überrascht: Gandalf und die Zwerge! Im Buch gingen sie ja nach und nach in Bilbos Haus und aßen und tranken dem armen Hobbit fast die Haare vom Kopf. Hier wurden auch meine Helden eingeladen: Ich hatte verschiedene Fantasy-Teesorten besorgt und unsere Mensa-Frauen hatten genug Teewasser vorbereitet. Wir verließen also das Klassenzimmer, wanderten zur Mensa herüber, tranken “fantastischen” Tee und lasen im Buch die entsprechende Textstelle. Wir schrieben alles über die verschiedenen Zwerge der Gefolgschaft auf, damit wir wussten, mit wem wir auf Reisen gingen: Wie hießen die Zwerge alle? Waren da auch Brüder dabei? Welche Farbe hatten ihre Mützen? Welche Details wurden sonst noch im Buch genannt? So bekamen wir ein klares Bild der Gefolgschaft und nach diesem Kennenlernen schlossen sich meine Jünglinge Bilbo, den Zwergen und Gandalf an.

Die Trolle

Die Unterrichtseinheit bot genügend Gelegenheiten, eine Menge über Mythologie zu lernen. Die Klasse sollte sehen, wo die Ursprünge der Welt von Mittelerde und anderen fantastischen Geschichten, die sie zweifelsohne kannten, lagen. Die Trolle sollten den Auftakt machen. Wir spielten, als ob wir mit Bilbo und den anderen auf Wanderschaft waren und Bilbo fragte uns, ob wir etwas über Trolle wussten.
Nein, wir wussten zu dem Zeitpunkt nichts über Trolle, aber wir hatten eine Schriftrolle von Mara im Rucksack über Trolle! Also lasen wir den Lexikoneintrag über diese mythischen Wesen und unterstrichen die wichtigsten Informationen. Dann sollten die Schüler nicht nur einfach eine kurze Präsentation halten. Nein. Wir stellten das Klassenzimmer ein wenig um, sodass man “über Stich und über Stein” wanderte und die Schüler sich nebenher mit Bilbo frei über Trolle unterhielten.

Anschließend war es so weit: Wir trafen – ach welch Zufall – auf drei Trolle! Als wir noch überlegten, wie wir sie überwinden könnten, war es schon zu spät! Jemand musste Bilbo retten! Also würfelten ein paar Schüler auf einem W20, ob sie ihn würden befreien konnten, aber sie wurden von den Trollen auch gefangen genommen und unsanft behandelt. Da handelten sie sich einiges an Schadenspunkten ein. Dann wollten die Zwerge hinterher, um Bilbo UND die Schüler zu befreien, aber oh weh, die wurden auch gefangen genommen. Noch mehr Schadenspunkte! Dann aber kam Gandalf und rettete alle. Nicht gerade sehr heldenhaft.

Wozu das alles? Nun, wir haben uns ja vorher überlegt, wie wir an den Trollen vorbeikommen könnten, aber es geschah ja etwas Unerwartetes: Es gab keinen heldenhaften Kampf, wie die Klasse zunächst vermutete, sondern es ging alles schief und wir mussten trickreich von Gandalf gerettet werden. Das war schon etwas ernüchternd, aber es war eine wichtige Erkenntnis, die später noch relevanter werden sollte: Bilbo kann am Anfang nicht viel, beziehungsweise er kann nichts. Er wandelt sich aber im Verlauf seiner Heldenreise.
Genau das hielten die Schüler für Mara in ihren Aufzeichnungen fest: Was war alles schiefgelaufen (Stichwort: Handlungsschritte bzw. Inhaltsangabe) und sie hielten auch fest, dass sie etwas enttäuscht waren, dass sie auch nicht viel gegen die Trolle ausrichten konnten.
Das alles schrieben die Abenteurer als einen Brief an Mara, die daheim in ihrer Welt auf Nachricht von ihnen wartete. Dabei musste der Brief so verfasst sein, als ob wir alles direkt als Beteiligte miterlebt hatten, und Mara musste als Außenstehende verstehen und nachvollziehen können, was passiert war.

Nach der Befreiung durfte die Klasse auf “Wahrnehmung” würfeln, d. h. sie würfelten reihum mit einem zwanzigseitigem Würfel, kurz 1W20, und wer besonders hoch würfelte, konnte in der Trollhöhle etwas finden. Eine Waffe, die später als Stich bekannt werden sollte. Da die Klasse das Schwert recht früh in der Unterrichtseinheit fand, durfte alle das Schwert für einen Tag im Unterricht behalten und auch mit nach Hause nehmen.

Um die Aufzeichnungen für Mara abzurunden, haben wir uns auch einen Anachronismus erlaubt. Stich bekommt seinen Namen und die eingravierte Schrift erst sehr viel später. Der Vollständigkeit halber, um die Besonderheit der Waffe zu unterstreichen, übernahmen wir die Inschrift ins Heft, allein schon wegen der schönen elbischen Schriftzeichen.
Jetzt stand bei den Kids tatsächlich etwas auf Elbisch im Deutschheft. Mission accomplished! 🙂 Sie liebten es. Es kam ihnen spätesten nun so vor, als ob wir in unserer Doppelstunde Deutsch tatsächlich eine Reise in eine andere Welt unternehmen würden, in der es so viel Wissen zu entdecken und zu dokumentieren gab, in der es viel zu erleben gab und man Gefahren trotzen musste. Wir waren bei allem mitten drin, unterwegs mit Bilbo, Gandalf und den Zwergen.

Briefe nach Hause

Während der Unterrichtseinheit griff ich häufig darauf zurück, die Schüler Briefe an ihre Mentorin nach Hause schreiben zu lassen. Ich muss zugeben, ich hatte dem tatsächlichen Prozess des Schreibens anfänglich zu wenig Zeit eingeräumt, denn hier geschah schon etwas Überraschendes: Ich hatte, damit etwas Fantasy-Feeling aufkommt und das Briefeschreiben etwas Besonderes sein sollte, Pergamentpapier gekauft. Aber: Die Klasse wollte sich besonders viel Mühe geben, damit die Briefe, die wir zuvor inhaltlich besprochen hatten, auch richtig schön wurden. Immerhin waren sie für Mara!
Ich war völlig überrascht und auch total baff! Also nahmen wir uns dann einfach die Zeit. Am liebsten hätte ich für alle nochmals Tee gekocht.

Die Orks

Im Nebelgebirge mussten wir uns mit den Orks herumprügeln. Auch hier beobachteten wir einerseits, wie Bilbo sich schlug, aber gleichzeitig mussten wir uns die Orks vom Hals halten. Dazu würfelten wir simple Treffer- und Ausweichwürfe aus. Ich beschrieb wie in einer spannenden Rollenspielsitzung mit Musikuntermalung, wie sich alle im Einzelnen schlugen. Ja, ich nahm mir wirklich für jeden Schüler Zeit, seine Kampfszene zu beschreiben, je nachdem, wie gut der Würfelwurf ausfiel. Und für viele war es so spannend, dass man an den Gesichtern ablesen konnte, dass sie mittendrin waren und mitfieberten.
Wurde jemand von meinen Abenteurern getroffen, weil ein Ork besser würfelte als der Verteidiger, konnten die Krieger der Truppe beschützen. Die Krieger hatten sehr viel zu tun! Nach dem Scharmützel heilten wir unsere Wunden, aber oh Schreck, Bilbo war verschwunden. Wir sicherten zuerst unsere Beobachtungen schriftlich über den Kampf und suchten dann nach Bilbo.

Gollum

Natürlich war die Begegnung mit Gollum ein Highlight. Denn hier mussten die Abenteurer nicht nur das Rätselspiel bestehen (das sie noch nicht gelesen hatten), sondern sie konnten auch den Ring einheimsen! Nachdem wir das Rätselspiel bestanden hatten, besprachen wir, wie man diese Art Rätsel bildet. Das würden wir nämlich später bei der Begegnung mit Smaug brauchen. Da mussten die Helden sich auch möglichst rätselhaft vorstellen, damit Smaug sie nicht auffraß oder zumindest ankokelte.
Eine Schülerin traute sich, den Ring, den ich für die Einheit gekauft hatte, “auszuprobieren”. Steckte sie ihn an, wurde sie “unsichtbar”, verlor aber für jede Minute einen Lebenspunkt. In ihrer Unsichtbarkeit konnte sie jedoch machen, was sie wollte. So konnten wir also direkt erleben, welche Macht dieser Ring hatte, aber auch, dass er einen vergiftete.
Auch den Ring ließen wir in der Klasse reihum wandern, sodass jeder den Ring einmal haben, benutzen und auch mit nach Hause nehmen durfte.

Der Düsterwald

Eines der Warnschilder, die wir für andere Wanderer aufgestellt hatten. (Foto: Jurgeleit)

Nachdem wir den Orks und auch Gollum entkommen waren, erreichten wir den Düsterwald. Wir hielten unseren Weg auf den Karten fest. Für einen Brief an Mara nach Hause überprüften wir den Kalender. Wir schilderten ihr, wie es im Düsterwald aussah. Dazu lasen wir im Buch und hielten Ausschau nach Textpassagen, die wir verwenden konnten, um den Düsterwald nicht nur zu beschreiben, sondern auch, wie wir uns dort fühlten und wie der Wald auf uns wirkte. Außerdem stellten wir nach den Erlebnissen dort Warnschilder am Eingang für andere Wanderer auf. Dieses Kapitel war für uns äußerst interessant, da Bilbo nun zu seinen ersten Heldentaten imstande war. Obendrein erlebten wir die Taufe des Schwertes Stich. So werden also legendäre Waffen geboren. Auch diese Beobachtung hielten wir genau fest und schrieben sie in einem Brief an Mara auf.

Der Hintergedanke: Das Heros-Schema nach Campbell

Das Schema aus Campbells Buch “Der Heros in 1000 Gestalten” war für die ganze Unterrichtseinheit der Dreh- und Angelpunkt, aber das Tolle war: Die Schüler merkten nicht, dass sie das Schema “abarbeiteten”. Als Klassenarbeit bot sich daher an, Bilbos Heldenreise nach dem Schema von Campbell zu untersuchen.
Dazu wollte ich ausgesuchte, ergiebige Schritte aus dem Schema herauspicken, um meine Abenteurer in der Klassenarbeit dazu zu befragen. Die Arbeit an sich war wie ein Brief von Mara gestaltet, in dem sie den Jünglingen einige Fragen zu ihrer Reise und dem Erlebten stellte. Ein Beispiel: “Wenn die Reise losgeht, kommt irgendwann der Punkt, an dem der Held seine alte bekannte Heimat verlässt und die Schwelle ins Ungewisse überschreitet. Was würdest du sagen, wo war dieser Punkt auf eurer Reise mit Bilbo?”

(Quelle: “The Monomyth” by RegHarris4Wiki, licensed under  CC-BY-SA-4.0 via Wikimedia Commons)

Unerwartete Energien werden freigesetzt

Während unserer Reise durch Mittelerde erstaunten mich manche meiner Schüler, weil sie so viel Enthusiasmus an den Tag legten. Als wir beispielsweise elbische Schriftzeichen besprachen, sagte plötzlich eine Schülerin: “Das sieht aus wie meine Schriftzeichen!”, und wir bekamen in der nächsten Stunde ein kleines Referat über die aramäische Schrift. Mir schenkte sie ein handgeschriebenes Blatt mit den Schriftzeichen, das ich nun als Erinnerung in meiner Hobbit-Ausgabe behalte.
Am Ende des Schuljahres bekam ich auch einen Abschiedsbrief von einem Schüler, handgeschrieben in zwergischen Runen. Auch den Brief bewahre ich in meiner Hobbit-Ausgabe auf.

Exemplarische Highlights: Maras Lexikon und das Ringfieber

Ein anderer Schüler war dermaßen vom Hobbit gepackt, dass er sein Heft komplett umgestaltete. Er holte sich von mir zwei Pergamentpapiere und bastelte daraus einen Umschlag für sein Heft. Übers Wochenende zeichnete er eigenhändig mehrere Karten und eigene Illustrationen. Saurons Auge mit den Schriftzeichen war drin und auch eine Collage über Smaug. Außerdem schrieb er etwas krakelig, nahm sich aber vor, “so schön zu schreiben wie ein Elb!”, und er arbeitete hart daran, seine Handschrift zu verbessern. Das war ihm auch gelungen.

Außerdem griff das Ring-Fieber um sich. Einige Schülerinnen fanden den Ring und die Inschrift so toll, dass sie sich selbst kleine Replika kauften und den Ring an einer Kette um den Hals trugen, sichtlich stolz darauf.

Abstecher in die Welt der Fantasy

Das durfte bei dem Thema natürlich nicht fehlen: Wir sahen uns in verschiedenen Fantasy-Regelwerken die Darstellung von Orks und Zwergen an, verglichen sie miteinander und auch den Darstellungen im “Hobbit”. Außerdem stellte ich auch kurz einige meiner Lieblings-Fantasybücher vor und verlieh einige bis zum Ende des Schuljahres an Interessierte. Die Schüler hatten auch großes Interesse daran, eine Rollenspielgruppe zu gründen, aber das kam aus Zeitmangel leider nicht zustande.

Abschied von Mittelerde

Nachdem die Abenteurer die Schlacht um den Berg miterlebt hatten, war es Zeit für sie, zurück nach Hause zu Mara zu kommen. Jetzt bleibt natürlich die Frage, was das alles denn gebracht hat. Hätte man das nicht alles ohne diesen Aufwand unterrichten können? Also nach dem Schema: Buch auf, Arbeitsblatt dazu, lesen und ausfüllen und besprechen? Dann könnte man den Hobbit in 12 Unterrichtsstunden schaffen!

Wenn man das Buch töten will, dann ja. Dann kann man das so machen.

Dazu sind Bücher aber nicht da. Werke wie der Hobbit wollen dich auf eine Reise mitnehmen. Der Hobbit zeigt dir eine Welt, die in deinem Kopf entsteht. Du gehst auf diese Abenteuer mit, meistens nur als passiver Beobachter. Aber Hand aufs Herz: Wer von euch hat sich denn nicht, gerade als Kind oder Jugendlicher, vorgestellt, ihr könntet in die Geschichte eingreifen oder mit den Figuren reden? Oder ihr habt euch selbst in das Buch hineingedacht? Oder vielleicht habt ihr sogar die Heldenrolle eingenommen?

Genau diese Ansätze sind mit Gamification möglich: Durch die Immersion wird das Buch lebendig und erlebbar. Ich sehe das Buch durch meinen Blick als Spielleiter mit fast drei Jahrzehnten Spielleitererfahrung als eine Vorlage für ein Abenteuer, an dem meine Spieler teilnehmen. Ich leite sie hindurch. Sie erleben die Welt, die Figuren, sie lernen sie kennen, reisen mit ihnen, kämpfen an ihrer Seite, fiebern mit, wenn es brenzlig wird, spüren die Gefahr am eigenen (Avatar-)Leib. In ihren Köpfen wurde das alles lebendig, vor allem, wenn wir kleine Rollenspielszenen ausspielten oder sie würfeln mussten. Da konnte ich es an ihren Reaktionen sehen. Die Freude, wenn ein Würfelwurf geklappt hat und sie von den Stühlen aufsprangen und jubelten. Ich konnte es an ihren Gesichtern ablesen: Es hatte sie gepackt! Sie hatten sich auf diese besondere Reise eingelassen und sie fieberten mit: Mit Bilbo und den Zwergen, mit Gandalf und mit Bard, aber sie fieberten auch mit ihren Mitspielern mit, wenn sie in Gefahr waren. Sie halfen sich mit ihren magischen Kräften und Zaubertränken gegenseitig, um das Abenteuer in Mittelerde zu bestehen. Meine Jünglinge wussten auch, für wen sie es taten: Für Mara! Sie gaben sich so viel Mühe, so viele Beobachtungen und Aufzeichnungen wie möglich für Mara anzufertigen. Weil es Spaß machte. Weil die Welt von Mittelerde erlebbar geworden war. Man konnte sie sogar anfassen: Der eine Ring und Stich! Artefakte aus einer anderen Welt in unseren Händen.
Wenn in der 5-Minuten-Pause die Schüler aus der Parallelklasse meine Schüler fragten: “Na, was macht ihr gerade in Deutsch?”, kamen Antworten wie: “Wir haben uns mit Orks geprügelt!”, oder: “Wir wollten Bilbo vor den Trollen retten, aber wir wurden gefangen genommen und jetzt muss uns jemand retten kommen”.
Ja, die waren absolut drin.

Und ganz am Ende der Einheit, als ich mit ihnen ein Gespräch führte, fragte ich sie: “Manche Leute sagen, wenn man Bücher liest, lebt man 1000 Jahre und erlebt 1000 Leben. Was bedeutet das?”, und da konnte man das KLICK in ihren Köpfen beinahe hören und die Gesichter fingen an zu strahlen und fast jeder wollte die Frage beantworten.

Fast ein Jahr ist nun seit der Einheit vergangen und letztens kam einer der Schüler auf mich zu, derjenige, der “Maras Lexikon” gestaltet hatte. Er sagte: “Sie müssen eines wissen: Ich habe früher nicht gerne gelesen. Das hat sich seit dem Hobbit geändert. Ich lese jetzt fast jede Woche ein Buch. Und wissen Sie was, ich lese gerade “Herr der Ringe”. Auf Englisch!”

Wir sollten Bücher nicht so unterrichten, indem wir sie auseinandernehmen, um nachzusehen, was sich der Autor alles dabei gedacht haben könnte. Heutzutage muss man Bücher so unterrichten, dass die Bücher lebendig werden und so die Jugendlichen wieder Lust aufs Lesen bekommen.
Die Lernziele haben meine Abenteurer übrigens alle erfüllt. Ganz nebenbei. Mitgenommen hatten sie viel mehr.

Ein Kommentar

  • Lieber Daniel,

    durch Zufall bin ich über diesen tollen Beitrag gestolpert und ich muss sagen, ich bin begeistert wie herzlich, kreativ und schön Deine Herangehensweise ist.

    “Der Hobbit” ist eines der kleinen und doch ganz großen Bücher unserer Zeit und verzaubert mich immer wieder neu. Es freut mich zu sehen, dass dies durch Deinen gamifizierten Lehrstil auch für die nachfolgenden, jungen Menschen so zu sein scheint.

    Ich habe diesen Post wirklich gerne gelesen und spüre in mir erneut das Verlangen meinen eigenen Hobbit aufzuschlagen. Danke dafür!

    Mit freundlichen Grüßen
    Jonas

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